Mein Ausgangspunkt war ehrlich gesagt ziemlich egoistisch: Ich will Building Thinking Classrooms (kurz: BTC, deutsch: Denkende Klassenzimmer) machen können, egal wo ich unterrichte. Nicht nur in meiner 9er-Klasse, wo es läuft, weil ich den Raum so gebaut habe, dass er funktioniert. Sondern auch, wenn ich nächstes Jahr in einer 6a stehe. Ich will, dass das Konzept tragfähig wird – raumunabhängig, jahrgangsunabhängig, kollegiumsabhängig.
Und noch ein zweiter Gedanke: Ich will davon erzählen. Nicht, weil ich Missionar bin, sondern weil ich weiß, dass Leute oft den Kopf schütteln, wenn man nur erklärt – aber sofort überzeugt sind, wenn sie es erleben.
In einem Artikel habe ich beschrieben, wie mir die Achter im Hauptbahnhofraum mein BTC-Konzept zerlegt haben: zu eng, zu wenig Tafel, anonyme Raumkultur. Da war klar: Konsequenz reicht nicht. Räume sind stille Hilfslehrer. Wenn der Raum gegen dich arbeitet, verlierst du. Punkt. Aus dieser Niederlage habe ich Konsequenzen gezogen – und genau darum geht es hier.
Mein Labor: die 9er-Klasse
Die 9er war mein Labor. Nicht Zufall, sondern gebaut. Ich habe den Raum bewusst umgebaut: Tische an die Seite, elf Meter Tafel, Kids ritualisiert. Kreide-Ökonomie im Griff, Schwämme sauber, klare Routinen. In diesem Setting lief BTC wie Netflix-Autoplay: eine Stunde dockte an die nächste an, ich musste kaum noch was sagen. Dieser Raum war mein Wingman – weil ich ihn mir dafür geschaffen habe.
Aber das ließ sich nicht einfach replizieren. Die 8er im Differenzierungsraum haben es mir gezeigt: zu wenig Fläche, zu eng, zu viele Lehrkräfte im Wechsel, kein Verantwortungsgefühl für den Raum. Da wurde aus BTC ein Kampf. Und das wollte ich nicht akzeptieren. Wenn BTC funktionieren soll, darf es nicht vom Zufall abhängen, ob ich gerade das Glück habe, einen passenden Raum zu erwischen.
Vom Experiment zur Bewegung
Also habe ich angefangen, Kolleg:innen einzuladen. Reinkommen, 45 Minuten gucken, rausgehen – überzeugt. Fachleitung, Sonderpädagogin. Und dazu ein befreundeter Mathematik-Kollege, der BTC ein paar Wochen später für sich gestartet hat. Das war wichtig: Es reicht nicht, wenn nur einer überzeugt ist. Drei Stimmen tragen mehr als eine, und sie sprechen nicht für mich, sondern für das Konzept. Genau das hat den Ausschlag gegeben, dass BTC vom Spinner-Projekt zur gemeinsamen Sache wurde.
Dann habe ich mich hingesetzt und Arbeitspapiere geschrieben. Acht, zehn Seiten – Prinzipien, Raum-Setup, Ablauf, Stolpersteine. Diese Texte waren mein Schlüssel, um das Ganze größer zu denken.
Wir sind Startchancen-Schule. Und ich bin an unserer Schule auch Startchancen-Koordinator. Diese Doppelrolle war ein Glücksfall: Sie hat den Druck der schlechten VERA-8-Ergebnisse mit den Chancen des Programms verbunden.
Und schlecht heißt wirklich schlecht. Wir wussten schon vorher, dass unsere Kids keine Musterlösungs-Schule schreiben. Wir haben Schüler:innen, die richtig herausfordernd sind – in Verhalten, in Biografien, in allem. Aber was wir können, ist sie sozial zu erreichen. Es gibt bei uns keine Dauer-Bühne für Klassenclowns, wir haben Struktur, wir haben Haltung. Trotzdem: die Ergebnisse sind unterirdisch.
Und das ist nicht einfach Pech oder ein Betriebsunfall. Denn in VERA werden wir mit Schulen verglichen, die genau dieselben Ausgangslagen haben – Köln-Chorweiler, Duisburg-Marxloh. Schweres Milieu, harte Fälle. Aber im direkten Vergleich liegen wir noch drunter. Da hilft kein Fingerzeig auf „unsere Schülerschaft“. Wir haben keine schlechten Lehrkräfte. Und genau deswegen gibt’s Handlungsdruck: Wir müssen was verändern.
Fachkonferenz, Leitung, Politik
Ich bin Fachkonferenz-Vorsitzender Mathematik. Heißt: Ich habe eine Plattform. Ich habe das Konzept vorgestellt und einen freiwilligen Arbeitskreis gegründet. Kein Erlass, kein Zwang. Freiwilligkeit schlägt Verordnung – das habe ich aus meinen eigenen Change-Management-Erfahrungen gelernt.
Und ich habe in der Fachkonferenz auch noch einmal ganz bewusst auf VERA verwiesen. Nicht als Zahlenspiel, sondern als Spiegel: Unsere Ergebnisse sind schlechter als die von Schulen mit den gleichen Herausforderungen. Da hilft kein Schönreden. Das hat den Handlungsdruck gesetzt – und genau das brauchte es, um die Diskussion vom „nice to have“ zu „wir müssen handeln“ zu drehen.
Jetzt sind wir sieben Leute, die Bock haben. Wir arbeiten vor. Andere wollen folgen, aber erst später. Das ist keine Schwäche, sondern genau so funktioniert Schulentwicklung: Kerngruppe legt los, andere docken an, wenn die ersten Ergebnisse sichtbar sind.
Dann zur Schulleitung. Klare Karten: Wirkung im Raum, ehrliche Einschätzung von Aufwand, kein Märchen. Check. Danach zur Schulrätin. Sie entscheidet final, ob die Startchancen-Gelder für verschiedene Projekte genehmigt werden. Auch hier: großes Interesse, grünes Licht – mit der Bitte, den Prozess weiter zu dokumentieren. Wieder Check.
Nächster Schritt: Antragsformular für die Tafeln ausgefüllt, an das Schulamt geschickt. Dort weiter zur Beschaffungsstelle. Und jetzt heißt es: warten. Auf Ausschreibung, Vergabe, Lieferung, Montage. Willkommen im deutschen Beschaffungswesen. Am Ende hoffentlich: neue Tafeln an den Wänden.
Theorie trifft Alltag: Nowland – Mare – Nextland
Parallel lief für mich eine DAPF-Fortbildung (TU Dortmund, Gesamtleitung: Martin Fugmann). Dort brachte Maik Zaborowski das Modell Nowland – Mare Transformatio – Nextland ins Spiel. Erst dachte ich: Beraterdeutsch. Dann merkte ich: das bin ich.
Plötzlich fügten sich die Teile zusammen: mein Labor in der 9er, die Frusterfahrung im Hauptbahnhofraum, meine Rolle als Fachkonferenz-Vorsitzender, mein Hebel als Startchancen-Koordinator, mein Werkzeugkasten aus agilen Transformationsprozessen. Alles passte in dieses Modell.
- Nowland: Unsere Lage vor BTC. Matheleistungen im Keller. Schüler:innen spielen Lernen, Räume im Frontal-Setup. Kaum sichtbares Denken.
- Mare Transformatio: Genau hier stehen wir. Euphorie, Rückschläge, Provisorien, Anträge. Räume werden Stück für Stück ausgestattet, ein freiwilliger Arbeitskreis formiert sich, Kolleg:innen hospitieren. Wir arbeiten iterativ: ausprobieren, scheitern, nachschärfen, weitermachen. Kein linearer Weg, sondern ein ständiges „versuchen – reflektieren – weiterbauen“.
- Nextland: die Vision. BTC ist keine Insel mehr, sondern Normalbetrieb. Jeder Raum trägt. Schüler:innen lernen sichtbar, kooperativ, kritisch. Kompetenzen wie Problemlösen, Denken, Zusammenarbeit werden systematisch gestärkt. Nicht als Projekt, sondern als Routine.
Das Modell war nicht die Lösung, sondern die Landkarte. Es hat mir Sprache gegeben für etwas, das längst da war: ein chaotischer, aber konsequenter Prozess.

Warten – und mein Warum
Und jetzt? Warten. Auf Tafeln, auf Lieferungen, auf Handwerker. Willkommen im deutschen Schulalltag. Alles unter sechs Monaten ist Sieg, alles darüber ist Normalbetrieb. Digitalpakt-Geduld.
Aber mein Motiv bleibt: Ich will BTC immer machen können. Egal, ob ich in einer 9er mit elf Metern Tafel stehe oder in einer 6a im Neubau. Und ich will, dass Kolleg:innen die gleiche Erfahrung machen können: dass Unterricht nicht Verwalten ist, sondern Energie.
Fazit
Der Weg war kein Masterplan. Er war Kreide an der Wand: ausprobieren, wegwischen, neu ansetzen. Aus Frust im Hauptbahnhof wurde ein politisches Projekt. Aus meinem 9er-Labor eine Schulentwicklung.
Es sind „nur“ Tafeln. Aber sie sind der Hebel. Ohne Fläche kein Denken. Mit Fläche wächst Kultur. Keine Wunder, keine Predigt – Arbeit. Genau deswegen wirkt es.
Und hier passt, was Martin Fugmann einmal zugespitzt formuliert hat: Transformation findet erst statt, wenn Form verändert wird. Solange wir Konzepte haben, die man nach der Stunde in den Schrank räumt, passiert nichts. Sichtbare Veränderung – Räume, die anders aussehen, Tafeln, die hängen, Angebote, die man nicht wegräumen kann – das ist der Unterschied. Genau deshalb sind die Tafeln kein Detail, sondern der Trigger: Sie sind sichtbar, niedrigschwellig, immer da.
Und für mich gilt: BTC ist viel zu gut, um es für mich zu behalten. Gute Konzepte muss man teilen. Und wenn wir in Deutschland irgendwo dringend Veränderung in Schule brauchen, dann im Mathematikunterricht.

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