Rückblick. Früher fand ich meinen Unterricht ganz okay. Ich habe wirklich viel ausprobiert: kooperative Methoden, digitale Konzepte, Wochenpläne, Lernheftsysteme, eigenständiges Arbeiten. Nicht halbherzig, sondern ernsthaft über längere Zeiträume. Ich wollte Schüler:innen aktivieren, Unterricht weiterentwickeln.
Am Ende aber sah es aber immer gleich aus: Die Noten blieben über Jahre gleich mies. Mein Vorteil war ein stabiles Classroom-Management, weniger Disziplinprobleme als bei anderen Kolleg:innen. Aber dauerhaftes Lernen im eigentlichen Sinn? Keine Spur. Die Kids waren leiser, aber nicht klüger. Rückblickend war mein Mathematikunterricht mega beschissen. Er war nicht wirklich effektiv. Und das sage ich als jemand, der sein Mathe-Referendariat mit 1,0 gemacht hat und überzeugt war, fachlich und didaktisch auf der Höhe zu sein. Ich dachte, ich sei innovativ. Turns out: Ich war gut darin, umeffektive Methoden zu schieben, Ordnung zu halten und diese zu optimieren – aber nicht darin, das Lernen meiner Kids dauerhaft zu verbessern.
Building Thinking Classrooms (kurz: BTC, deutsch: Denkende Klassenzimmer) hat mir das brutal vor Augen geführt.
Warum ich gemessen habe
Wenn ich heute von BTC erzähle, klinge ich wie ein Guru. Euphorisch, überzeugt, missionarisch. Genau das ist die Gefahr: dass man sich selbst im Gefühl verliert. Aber Wissenschaft lebt davon, dass Bauchgefühle überprüft werden. Also habe ich mein eigenes Gefühl auf eine empirische Basis gestellt: eine anonyme Befragung über Edkimo, Likert-Skala von 1 („nie“) bis 5 („immer“), zweimal durchgeführt – vor Beginn von BTC und nach einigen Wochen täglicher BTC-Praxis.
Und wichtig: Befragt habe ich nicht mich selbst, nicht Kolleg:innen, sondern meine eigenen 9er Schüler:innen. Sie haben ihr eigenes Lernen reflektiert. Wissenschaftlich ist das durchaus haltbar, weil Schüler:innen eine klare Erfahrung davon haben, wie sie Unterricht empfinden – und weil dieses Empfinden unmittelbar beeinflusst, wie Stoff am Ende verarbeitet und erinnert wird. Genau darum ist das Erleben selbst ein relevanter Datenpunkt.
Ich habe dieselbe Umfrage auch in einem 8er-Kurs durchgeführt. Die Ergebnisse waren dort ebenfalls positiv, aber methodisch kaum belastbar. Fast die Hälfte dieses Kurses war neu, viele kannten meinen alten Unterricht gar nicht. Sie hatten also keinen Vorher-Nachher-Vergleich. Genau deshalb nehme ich die 9er als Referenz: eine stabile Lerngruppe, die ich seit Jahren kenne, mit klarer Vergleichsbasis.
Mir ist klar: Es ist nur eine Lerngruppe die ich hier aufführe. Aber sie ist für mich eine exemplarische, fast schon ideelle Lerngruppe. Sie zeigt, was möglich ist, wenn man Unterricht und Klassenraum konsequent nach BTC organisiert. Deshalb habe ich diese Daten erhoben – nicht, um eine Großstudie zu simulieren, sondern um mein Bauchgefühl zu prüfen.
Was ich abgefragt habe – und warum
Die Items waren bewusst gewählt:
- Denken, weil Lernen ohne Denken bloß Bewegung ist.
- Anstrengung bei Schwierigkeit, weil Bildung immer mit Widerstand zu tun hat.
- Kooperation, weil Lernen im Austausch entsteht.
- Eigenaktivität, weil Reproduktion kein Verständnis erzeugt.
- Nützlichkeit, weil Sinn eine Grundlage für Motivation ist.
- Selbstwirksamkeit, weil ohne das „Ich kann das“ jede Lernkarriere abbricht.
- Fehlerkultur, weil Lernen ohne Risiko kein echtes Lernen ist.
- Aufgabenqualität, weil schwache Aufgaben jede Architektur zum Einsturz bringen.
Das sind keine Nebenaspekte. Das sind die Kerndimensionen, an denen sich guter Unterricht messen lassen muss.
Die Sprünge im Überblick
Nach fünf Wochen BTC sahen die Werte so aus:
- Intensiv nachgedacht: 3,59 → 4,64
- Anstrengung: 3,68 → 4,64
- Kooperation: 3,36 → 4,86
- Eigenaktivität: 3,00 → 4,59
- Nützlichkeit: 3,23 → 4,41
- Selbstwirksamkeit: 2,91 → 4,55
- Fehlerkultur: 3,18 → 4,23
- Aufgabenqualität: 3,14 → 4,59
Im Schnitt: +1,3 Punkte. Bildungswissenschaftlich gilt schon ein Zuwachs von +0,3 Punkten als robust.
Dazu habe ich eine zweite Datenquelle: eine Klassenarbeit zum Thema Potenzen und Wurzeln – identisch mit einer Arbeit von 2022. Damals: Schnitt 5,3. Jetzt: Schnitt 4,2. Deutlich verbessert, mit Luft nach oben. Und um die Dimension klarzumachen: Ich habe diese 9er schon im Vorjahr unterrichtet. In einem kompletten Schuljahr hatte ich keine einzige Klassenarbeit mit einem Schnitt unter 5,1. Der Sprung auf 4,2 ist also nicht nur im Vergleich zu 2022, sondern auch im Vergleich zu ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit ein Bruch. Zumal wir hier von zwei sehr ähnlichen Lerngruppen sprechen – keine Eliteklasse, kein Sonderfall, sondern normal zusammengesetzte Hauptschulkurse.
Und bevor jemand fragt: Nein, die kannten die Arbeit nicht. Meine Kids horten keine alten Mathearbeiten in Schnellheftern, die liegen nach Rückgabe immer direkt im Schulmülleimer.
Natürlich weiß ich, dass es nicht dieselben Schüler:innen sind, dass drei Jahre dazwischenliegen. Aber genau deshalb ist der Befund interessant: Subjektive Wahrnehmung und „harte“ Leistung zeigen in dieselbe Richtung.
Und das widerspricht einer verbreiteten Erzählung, die man oft hört: „Die Kinder werden doch immer dümmer.“ Nicht hier. Nicht unter diesen Bedingungen.
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Dimension für Dimension – und warum sie zählen
Denken. Der Wert ist von 3,59 auf 4,64 gestiegen – über ein ganzes Punktplus. Der Punkt ist: Denken ist jetzt Standardmodus. Genau darum geht es in der Didaktik seit Jahrzehnten: Unterricht, der Denken erzwingt.
Anstrengung. Von 3,68 auf 4,64 – fast ein Punkt mehr. Das zeigt: Schwierigkeit wird ausgehalten. Pädagogisch ist das zentral, denn ohne Durchhaltevermögen entsteht kein Tiefenlernen. Wer Schwierigkeiten sofort umgeht, bleibt an der Oberfläche. BTC schafft Strukturen, die Dranbleiben normalisieren.
Kooperation. Der Sprung von 3,36 auf 4,86 ist fast unglaublich. Aber er zeigt: Lernen ist jetzt ein sozialer Prozess. Schüler:innen erklären, diskutieren, korrigieren einander. Bildungswissenschaftlich ist klar: Kooperation erweitert Perspektiven, macht Denken sichtbar und verhindert, dass Lernen in der Einsamkeit scheitert.
Eigenaktivität. Von 3,0 auf 4,59 – der stärkste Sprung. Das bedeutet: Schüler:innen entwickeln eigene Ideen, statt zu kopieren. Genau hier entscheidet sich, ob man Wissen wirklich versteht. Eigenaktivität ist das Fundament von Transfer.
Nützlichkeit. Von 3,23 auf 4,41. Und das bei Potenzen und Wurzeln. Das ist spannend, weil Motivation nicht vom Thema kommt, sondern von der Lernarchitektur. Didaktisch ist das entscheidend: Sinn wird nicht durch „Alltagsbeispiele“ erzeugt, sondern durch ein Setting, das Denken als wertvoll erfahrbar macht.
Selbstwirksamkeit. Von 2,91 auf 4,55 – ein massiver Sprung. „Ich habe mehr geschafft, als ich dachte“ ist einer der stärksten Prädiktoren für nachhaltiges Lernen. Ohne Selbstwirksamkeit bricht jede Motivation irgendwann ein. Mit ihr bleibt man dran – auch über den Stoff hinaus.
Fehlerkultur. Von 3,18 auf 4,23. Fehler sind kein Gesichtsverlust mehr, sondern Datenpunkte im Lernprozess. Genau das ist die Bedingung dafür, dass Schüler:innen Risiken eingehen und neue Wege ausprobieren. Ohne Fehlerkultur kein echtes Lernen.
Aufgabenqualität. Von 3,14 auf 4,59. Schüler:innen erleben die Aufgaben als interessant und herausfordernd. Damit erfüllen sie genau das, was kognitiv aktivierende Aufgaben tun sollen: Sie erzeugen Spannung, fordern heraus, überfordern aber nicht. Damit ist die Lernzeit im Raum produktiv.
Subjektiv und objektiv zusammengedacht
Die Edkimo-Daten zeigen, wie die Schüler:innen ihren Unterricht erleben. Die Klassenarbeit zeigt, was dabei herauskommt, wenn man identische Aufgaben vergleicht. Beides zusammen ergibt ein Bild, das nicht einfach als Neuheitseffekt abgetan werden kann. Ein paralleler Anstieg von erlebtem Lernen und realer Leistung ist selten – hier ist er da.
Ceiling-Effekt – Ausblick auf die weiteren Untersuchungen
Einige Werte sind schon so hoch, dass kaum noch Luft nach oben bleibt. Kooperation bei 4,86, Denken bei 4,64 – höher geht fast nicht. Genau das nennt man Ceiling-Effekt. Für mich heißt das: Es wird nicht mehr um „noch höhere“ Werte gehen. Die entscheidende Frage ist: Bleiben die Werte stabil? Oder sackt etwas ab, wenn der Neuheitseffekt verflogen ist? Eine nächste Erhebung in zwei Monaten wird also nicht mehr nach Wachstum suchen, sondern nach Beständigkeit. Das ist die eigentliche Nuance.
Fazit
Mein alter Unterricht war ruhig und geordnet – und im Rückblick ziemlich beschissen. BTC hat in den letzten Wochen eine Lernkultur erzeugt, in der Denken Normalfall ist, Schwierigkeit ausgehalten wird, Kooperation selbstverständlich ist und Leistungen sichtbar werden.
Die Daten zeigen es: subjektiv in den Edkimo-Werten, objektiv in der identischen Klassenarbeit. Zusammen widersprechen sie der bequemen Erzählung, dass Kinder immer weniger können. Und sie zeigen: Euphorie ist diesmal keine Schwärmerei. Sie ist messbar.

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