11 Stolperfallen im Building Thinking Classroom (und wie ich in jede einzelne reingelatscht bin)

Ich habe nie gedacht, dass Building Thinking Classrooms (kurz: BTC, deutsch: Denkende Klassenzimmer), „easy“ wird. Kein Methodensprint, kein bisschen Whiteboard hier, Dreiergruppe dort und fertig ist die Mathe-Magie. Aber ich merke, wie oft Kolleg:innen mich ansprechen – immer mit denselben Zweifeln, denselben Bedenken, denselben „Wir haben’s probiert, aber…“. Viele brechen ab, bevor überhaupt klar ist, was da gerade entsteht. Manche erwarten nach drei Stunden Ergebnisse, die eigentlich erst nach Wochen sichtbar werden. Und weil ich diese Gespräche ständig führe, schreibe ich das hier auf.

Nicht als Guru-Text. Sondern als Erfahrungsbericht einer Person, die wirklich in jede einzelne BTC-Falle reingelatscht ist. Vollspeed. Ohne Helm. Mehrfach. Vor Klasse. Vor Kolleg:innen. Vor mir selbst. Deshalb hier keine Hochglanz-Anleitung, sondern ein ehrlicher Seziertisch: 11 typische Fehler, die wir im BTC machen – und warum sie normal, nervig, aber auch notwendig sind.

1. Zu früh aufgeben – oder: „Nach drei Stunden war ich sicher, dass das alles Quatsch ist“

Mein größter Irrtum am Anfang: Ich dachte, nach zwei, drei BTC-Stunden „sieht man ja, ob das funktioniert“. Tat man nicht.

Was man sah: Chaos. Dreiergruppen, die eher nach Shisha-Bar als nach Matheunterricht aussahen. Ein Schüler, der mit dem Whiteboardstift auf seinem Schuh rumkritzelt. Zwei andere, die sich zehn Minuten darüber streiten, wer schreiben „muss“. Und in meinem Kopf: „Die können das nicht.“ – „Die Klasse ist zu schwierig.“ – „Das passt vielleicht an Gymnasien, aber nicht hier.“

Die Wahrheit ist brutaler: Nicht die können’s (noch) nicht – ich kann’s (noch) nicht. Also: ich kann den Prozess nicht aushalten.

Ein Thinking Classroom ist kein Lego-Modell: nicht „20 Minuten aufbauen, zwei Steine übrig, passt schon“. Es ist eher wie eine Fahrradkette, die du neu aufziehst: Am Anfang flutscht nichts, die Finger sind schwarz, irgendwas springt ständig raus – aber irgendwann läuft das Teil plötzlich butterweich.

Was wir gern vergessen: Die Kids sind jahrelang darauf trainiert worden, brav abzuschreiben, Arbeitsblätter zu füllen und ab und zu eine Lösung zu sagen, wenn sie sich sicher sind. Plötzlich sollen sie denken, reden, diskutieren, riskieren, falsch liegen. Das ist kein Methodenwechsel. Das ist ein anderer Job.

Und ja: Vor allem in Hauptschulklassen oder Gruppen mit wilder Sozialdynamik dauert das. Länger als unser Nervenkostüm gern hätte. Aber wer durchhält, sieht fast immer dasselbe Muster: Woche 1–2: Chaos, Unsicherheit, „Was will der?“ – Woche 3–5: erste Gruppen tragen sich von selbst, erste echte Denkgespräche. Ab Woche 6: immer mehr Kids steigen ein, auch die leisen. Später: Du denkst dir: „Wann ist das eigentlich passiert, dass die einfach anfangen zu arbeiten?“

BTC scheitert nicht, weil es nicht „funktioniert“. Es scheitert, weil wir zu früh sagen: „Das sieht nicht gut aus, ich geh zurück zu dem, was wenigstens ordentlich aussieht.“

2. Nicht auf Regeln bestehen – oder: „Nur dieses eine Mal… und zack, war’s immer so“

Klassiker. Ich erkläre die BTC-Regeln: Dreiergruppen per Zufall, ein Stift, alle am Board, alle stehen. Alle nicken. Dann kommt der erste „Sonderfall“:

„Können wir zu viert? Wir sind sonst auseinander.“
„Mir ist schlecht, kann ich sitzen?“
„Darf ich kurz meinem Freund helfen? Der versteht gar nichts.“

Und du denkst: Ich bin ja kein Monster. Okay, heute mal. Nur dieses eine Mal.

Tja. Aus „nur heute“ wird nach exakt zwei Stunden „so machen wir das halt immer“. Aus Dreiergruppen werden Vierercliquen, aus stehender Arbeit wird Sit-In, aus einem Stift werden drei, aus „denken“ wird wieder „abschreiben“.

Liljedahl sagt den unscheinbaren Satz: Die Regeln sind nicht „Empfehlungen“ – sie sind das Gerüst.

  • Dreiergruppe: unverhandelbar.
  • Vertikale, non-permanente Oberfläche: unverhandelbar.
  • Ein Stift: unverhandelbar.
  • Stehen: unverhandelbar (mit wenigen echten Ausnahmen).

Nicht, weil wir Kontrollfreaks sind, sondern weil ohne dieses Gerüst sofort die alte Schul-Sozialordnung reinrutscht: einer arbeitet, einer kommentiert, einer guckt zu oder sabotiert.

Besonders in „schwierigen“ Klassen ist das fiese Paradox: Strenge Struktur wirkt erstmal hart – ist aber am Ende die größte Entlastung für alle. Jeder weiß, was gilt. Jeder weiß, dass es für alle gleich gilt. Jede Diskussion „Aber die dürfen doch…“ endet mit: „Nein, die auch nicht.“

„Unverhandelbar“ heißt nicht „anschreien“. Es heißt: ruhig, klar, immer gleich. Kein Wischiwaschi, kein Sonderangebot, kein „Heute mal anders“. Je konsequenter du bist, desto weniger musst du diskutieren. Je weniger du diskutierst, desto mehr können sie denken.

3. Zu schnell Erfolge sehen wollen – oder: „Vier Stunden probiert, hat nichts gebracht“

Noch so ein Ding: Wir machen vier BTC-Stunden, es läuft mittelmäßig – und wir bewerten ein langfristiges Kulturprojekt wie eine Amazon-Lieferung: „Kam nicht pünktlich, zurück damit.“

BTC ist keine Instant-Nudel-Tüte: fünf Minuten heißes Wasser drauf, fertig. Es ist eher wie Brotteig: Wenn du zu früh dran rumpickst, ist es einfach nur klebriger Kack.

Die ersten Wochen: Kids vergessen Regeln. Gruppen laufen unrund. Aufgaben zünden nur halb. Du verhaust Impulse, erklärst zu viel, greifst zu früh ein. Es gibt Stunden, die du am liebsten aus dem Gedächtnis löschen würdest.

Das ist nicht der Beweis, dass BTC nicht funktioniert. Das ist der Preis dafür, eine neue Unterrichtskultur zu bauen.

BTC braucht Regelmäßigkeit, nicht Event-Charakter („Heute mal was Spannendes!“). Es braucht Frequenz: einmal pro Woche ist nett, aber zu wenig für echte Routine. Und Konstanz: gleiche Strukturen, gleiche Abläufe, wieder und wieder.

Wenn du BTC wie eine seltene Sonderveranstaltung einstreust, wird es immer fremd bleiben. Die Kids müssen reinwachsen – sozial, fachlich, mental. Und ja, das dauert. Aber nach ein paar Wochen merkst du plötzlich: Aufgaben, bei denen früher alle nach fünf Minuten aufgegeben haben, werden jetzt 20 Minuten diskutiert. Die leisen Schüler:innen fangen an, am Board zu erklären. Fragen werden differenzierter. Denkwege werden tiefer – ohne dass du sie „ziehen“ musst.

BTC wirkt wie eine Investition: Am Anfang nur Aufwand, hinten raus Dividende. Wer nach drei Stunden die Aktie verkauft, sieht halt nie den Ertrag.

4. Schlechte Aufgaben – oder: „Diese Stunde war einfach… Müll. Und wichtig.“

Unbequeme Wahrheit: Du wirst scheiß Aufgaben machen. Mehr als dir lieb ist. Und das ist normal.

Eine gute BTC-Aufgabe muss gleichzeitig das Lernziel tragen, zum Denken einladen, nicht sofort in ein Rezept rutschen, niedrigschwellig starten, hochschwellig enden können – und bitte noch interessant sein. Das ist ungefähr so easy wie: „Back mal einen Kuchen, der vegan, glutenfrei, zuckerfrei, histaminarm, billig und lecker ist.“

Also passiert am Anfang: Aufgabe zu schwer → alle stehen lost vorm Board. Aufgabe zu leicht → nach sieben Minuten alles fertig, 25 Minuten Leerlauf. Aufgabe zu geschlossen → stumpfes Abarbeiten, null Diskussion. Aufgabe zu schwammig → Unruhe, Frust, Ausweichen auf Smalltalk.

Und dann stehst du da, schaust in den Raum und denkst: „Ich bin so dumm, warum hab ich mir das angetan?“

Aber hier kommt der unangenehme Teil: Genau diese Stunden sind Gold.

Warum? Weil du im Thinking Classroom das Denken siehst. Du siehst, wo alle hängenbleiben, welche Fehlvorstellungen sich durchziehen, welche Formulierungen sie missverstehen, welche Beispiele funktionieren – und welche nicht. Jede schlecht laufende Stunde ist eine kostenlose Diagnose.

Nach ein paar Wochen BTC merkst du, wie sich was in dir verschiebt: Du fühlst Aufgaben, bevor du sie machst. Du ahnst, wo sie eskalieren könnten. Du weißt, welcher Einstieg für diese Klasse tragfähig ist. Du erkennst: „Die brauchen eher Struktur“ oder „Die können frei denken.“

Die Aufgabe muss nicht perfekt sein. Sie muss leben. Und das tut sie oft gerade dann, wenn sie nicht glatt durchläuft.

5. Unvorbereitet in eine BTC-Stunde gehen – oder: „Ich dachte, ich sei spontan. Turns out: ich war nur unvorbereitet.“

Ich hatte diese romantische Vorstellung: „Eines Tages brauche ich für BTC gar keine Vorbereitung mehr. Ich geh rein, hab eine starke Aufgabe im Kopf, fertig.“ Und ja – mit viel Erfahrung geht man Richtung „leicht vorbereitet“. Aber am Anfang ist „Ich mach das spontan“ einfach… Selbstüberschätzung mit Pädagogikstempel.

BTC verzeiht wenig, wenn du unvorbereitet reingehst: Unklare Aufgabe → 30 Minuten Chaos. Falscher Schwierigkeitsgrad → Frust oder Langeweile. Kein klares Ziel → Sicherung wird zur Live-Impro-Comedy. Keine Idee zu möglichen Lösungswegen → du bist dauernd hinterher.

Und dann wirkt die Klasse „unmöglich“. Ist sie nicht. Du hast ihnen einfach ohne Netz und Plan eine neue Lernkultur hingeworfen.

Gute BTC-Vorbereitung ist nicht: 20 Seiten Verlaufsplan, dreifarbige Tafelbilder, laminierte Karten. Gute BTC-Vorbereitung ist:

  1. Was soll am Ende im Kopf der Kids klarer sein als vorher?
    Ein Begriff, eine Idee, ein Verfahren, eine Struktur.
  2. Welche Aufgabe zwingt sie, genau damit zu ringen?
    Nicht zehn Aufgaben. Eine starke.
  3. Welche typischen Fehlwege sind wahrscheinlich?
    Damit du in der Sicherung gezielt drauf eingehen kannst.
  4. Wie könnte die Sicherung aussehen?
    Kurzes Plenum? Beispiel ordnen? Strategien sammeln? Ein Satz, ein Bild, ein Muster – kein 15-minütiger Monolog.

Das dauert – mit bisschen Übung – oft keine zehn Minuten. Aber diese zehn Minuten sind der Unterschied zwischen „Die Klasse ist eine Katastrophe“ und „Krass, was die heute gedacht haben.“

Spontanität ist super – aber sie trägt erst, wenn dahinter Erfahrung und Struktur liegen. Bis dahin gilt: lieber zehn Minuten nachdenken als 45 Minuten live verbrennen.

6. Zu viel in eine Stunde packen – oder: Lehrplanpanik in Reinform

Noch so eine Berufskrankheit: Wir glauben, jede Stunde müsse drei Kompetenzen, zwei Operatoren und ein halbes Kapitel abdecken. Also planen wir BTC-Stunden wie All-you-can-eat-Buffet: Einstieg mit Wiederholung, dann eine Problemaufgabe, dann noch eine Variation, dann eine Sicherung, dann am besten noch eine Übungsphase.

Und am Ende? Haben alle von allem ein bisschen gesehen – und nichts wirklich verstanden.

BTC ist radikal: Ein Lernziel. Eine Aufgabe. Punkt.

Das fühlt sich erstmal falsch an. Weil es langsam wirkt. Weil der Lehrplan im Hinterkopf schreit: „Du hängst hinterher!“ Aber: Verstehen braucht Raum. Richtige, leere, unproduktive, nervige Zeit. Zeit, in der sie falsch denken. Zeit, in der sie diskutieren. Zeit, in der sie sich nicht sicher sind. Zeit, in der du nicht rettest.

Wenn du zu viel reinpackst, passiert: Denken wird oberflächlich. Gespräche werden schnell, aber flach. Die Kids springen auf Muster an, nicht auf Verständnis. Du fühlst dich gehetzt und schiebst die Klasse vor dir her.

Eine gute BTC-Stunde ist brutal fokussiert: ein Kern, eine Aufgabe, die diesen Kern triggert, eine Sicherung, die genau diesen Kern sichtbar macht. Alles andere – Drill, Übung, „festigen“ – kann später kommen. Aber wenn der Kern nie gedacht wurde, kannst du auch 50 Übungsaufgaben machen – sie bleiben wackelig.

7. Stoffangst – oder: „Ich komme doch nie durch, wenn ich so arbeite!“

Der Klassiker, der in jedem Lehrerzimmer rumspukt: „Ja, schön und gut – aber wie soll ich da mit dem Stoff durchkommen?“

Die ehrliche Antwort: Mit normalem Abarbeiten kommst du auch nicht durch – du kannst es nur besser vor dir selbst verstecken.

Wir kennen das Spiel: Kapitel abhaken → Haken im Kopf. Klassenarbeit → 60 % können’s nicht. „Wir wiederholen nochmal schnell…“ Nächstes Kapitel. Am Ende des Schuljahres: alles durchgenommen, wenig verstanden.

BTC dreht das um: Weniger durchziehen, mehr verankern.

Wenn die Schüler:innen wirklich gedacht haben, brauchst du weniger Wiederholung, weniger Reparaturstunden, weniger „Wir machen das nochmal, ihr habt es irgendwie nicht“, weniger hektische Testvorbereitung. Ja, der Anfang ist langsamer. Ja, du wirst denken: „Wir hängen hinterher.“ Ja, das fühlt sich scheiße an, wenn du im Buch nach vorne blätterst.

Aber nach ein paar Monaten merkst du: Inhalte sind noch da. Strategien tauchen in neuen Kontexten wieder auf. Die Kids sind weniger angewiesen auf immer neue Erklärungen.

Die Stoffangst ist verständlich. Sie sitzt tief. Aber sie basiert auf einer Lüge: dass „durchgenommen“ dasselbe sei wie „gelernt“. BTC arbeitet nicht gegen den Lehrplan. Es arbeitet endlich für ihn – indem wir das, was drinsteht, ernst nehmen und nicht nur abhaken.

8. „Nicht jedes Kind kann mit jedem Kind“ – oder: Genau deshalb machen wir’s

Die emotional härteste Stolperfalle: Zufallsgruppen. Kolleg:innen, Eltern, manchmal auch wir selbst sagen: „Aber du kannst doch nicht jeden mit jedem… Da sind doch Konflikte, Vorgeschichten, Abneigungen.“

Und ja: Es wird knallen. Es wird Gruppen geben, in denen du dir denkst: „Okay, der Zufall hasst mich persönlich.“

Aber: „Nicht jeder kann mit jedem“ ist kein Grund, Zufallsgruppen abzuschaffen. Es ist der Grund, warum sie wichtig sind.

Die Realität da draußen: Du suchst dir deine Kolleg:innen nicht aus. Deine Nachbarschaft nicht. Dein Team später auch nicht immer. Und laut allen Kompetenzrahmen sollen Kids kooperieren, Konflikte regulieren, Aufgaben strukturieren, Verantwortung teilen. Das geht nicht, wenn du immer mit deinem Lieblingsmenschen arbeiten darfst.

Die ersten BTC-Wochen mit Zufallsgruppen sind hart: Sprüche wie „Mit dem arbeite ich nicht!“, Drama à la „Ich hab eh nie Glück bei der Auslosung!“ und Sabotageversuche: „Dann mach ich halt nichts.“

Vier BTC-Stunden sind da nichts. Gar nichts. Wir predigen im Referendariat, dass Methoden „routiniert“ werden müssen – und erwarten gleichzeitig, dass Klassen nach drei Zufallssessions sozial perfekt performen.

Wenn du dranbleibst, passiert aber etwas Interessantes: Gruppen werden stabiler, auch in schwierigen Konstellationen. Rollen klären sich: wer erklärt, wer strukturiert, wer schreibt. Auch konfliktreiche Paare finden Arbeitsnischen. Der Zufall wird „normal“ – nicht jedes Mal Drama.

Nein, sie müssen sich nicht alle lieben. Sie müssen miteinander arbeiten können. Das ist ein Unterschied – und eine der zentralsten Kompetenzen überhaupt.

9. Unruhe aushalten – oder: „Das klingt wie Lern-Apokalypse, ist aber Denken“

Die ehrlichste Horrorvorstellung vieler Lehrkräfte: laut denkende Klassen. Wir wurden jahrelang darauf konditioniert: Ruhe = Kontrolle = guter Unterricht. Leise arbeitende Kinder = Bild im Kopf: „So muss das sein.“

Dann kommst du in einen vollen BTC-Raum: 28 Jugendliche stehen, reden, zeigen, lachen. Kreide quietscht über Tafeln. Einer erklärt laut, drei andere diskutieren quer. Einer malt einen Penis an die Tafel. Zwei sind kurz auf Nebenbaustellen unterwegs. Von außen: „Apokalypse.“ Von innen – oft – produktive Betriebsamkeit.

Am Anfang fühlt sich das für uns an wie Kontrollverlust. Weil du nicht mehr jeden Satz hörst, du nicht mehr alles steuerst, du nicht mehr jede Denkbewegung kennst. Die Reflexe sind klar: „Es ist zu laut.“ – „So kann doch keiner konzentriert arbeiten.“ – „Ich muss das runterregeln.“

Aber: Produktives Denken ist nicht steril. Es atmet, stolpert, ist unordentlich.

Wichtig ist die Unterscheidung: lautes, zielgerichtetes Arbeiten vs. lauter, sinnloser Lärm. Das braucht Zeit – für dich und für die Kids.

Was hilft: eine gemeinsame Sprache („arbeitsfähig“ statt „ruhig“), kurze Stopps mit „Check – seid ihr noch am Denken oder schon am Quatschen?“ und ehrliches Feedback von Schüler:innen: „War das gerade gut so oder drüber?“

Und: Unsere Wahrnehmung ist nicht ihre. Während du das Gefühl hast, im Auge eines Sturms zu stehen, ist es für sie oft Flow: zwei Stimmen, ein Board, eine Idee – fertig.

Je länger du BTC machst, desto mehr trainierst du dein Gehör: Du hörst, welche Unruhe gut ist. Du merkst, wann nur noch gelabert wird. Du weißt, wann du eingreifen musst – und wann nicht.

Unruhe ist nicht der Feind. Sie ist das Betriebsgeräusch von Lernen.

10. Zu früh eingreifen – oder: „Genau da, wo ich’s nicht mehr ausgehalten hab, wär’s spannend geworden“

Das ist wahrscheinlich die größte Falle: Wir „retten“ zu früh.

Du siehst einen komplett falschen Ansatz an der Tafel, hörst, wie sie sich in eine Sackgasse quatschen, siehst Zahlen, die dir körperlich wehtun, spürst, wie „die Zeit wegläuft“. Und alles in dir schreit: „Stopp! Falsch! Ich zeig’s euch schnell!“

Besonders in Mathe sind wir allergisch gegen Fehler, die sich vermehren. Wir wollen „saubere“ Lösungen, „korrekte“ Wege. Also brechen wir ab, ordnen, erklären – genau im falschen Moment.

Es gibt Forschung dazu (siehe mein Artikel hier): Kurz vor Aha-Momenten wird Verhalten wilder – größere Sprünge in den Ideen, mehr Wechsel, mehr scheinbare Planlosigkeit, mehr Unruhe. Von außen wirkt das wie: „Die sind total lost.“ Von innen ist es: Gehirn sortiert sich gerade neu.

Wenn wir da eingreifen, nehmen wir ihnen die Chance, die Lücke selbst zu schließen. Wir reißen den Prozess raus, kurz bevor die Einsicht kommt.

Professionelle BTC-Haltung heißt: aushalten. Auch wenn sie zehn Minuten auf einem falschen Weg rumdümpeln, auch wenn du sicher bist, dass das nicht „klappt“, auch wenn dein innerer Perfektionist schreit.

Du kannst in dieser Phase kleine, nicht-helfende Sätze sagen wie „Bleibt mal an der Idee dran“, „Vergleicht das mal mit eurer ersten Version“, „Wo passt das noch nicht zusammen?“. Aber keine Rettungsaktion. Kein „Also eigentlich müsst ihr…“.

Die Erkenntnis kommt nach der Unruhe, nicht ohne sie.

11. Im Lernprozess rumfummeln – oder: „Manchmal ist ‚Halt die Fresse‘ der professionellste Move“

Das härteste Learning für viele von uns: Wir müssen lernen, nicht klug zu sein.

Wir steuern unseren Job seit Jahren über Erklären, Performen, Antworten geben, Wissenslücken schließen. BTC sagt: Lass. Es.

Liljedahl ist da brutal klar: Wir beantworten während der Arbeitsphase keine fachlichen Fragen. Wir erklären keine Lösungswege. Wir „retten“ nicht. Wir präsentieren uns nicht als Genie auf zwei Beinen.

Unsere Aufgabe: Rahmen setzen, Struktur halten, nach Mustern im Denken suchen, für Sicherheit und Respekt sorgen, in der Sicherung Entscheidungen treffen. Nicht unsere Aufgabe: in jeder Gruppe Mini-Nachhilfe geben, jede Unsicherheit sofort glätten, jeden Fehler direkt korrigieren.

Ja, es gibt Ausnahmen: Wenn die Struktur auseinanderfliegt – Gruppen funktionieren gar nicht, Rollen sind unklar – musst du eingreifen. Und wenn Sicherheit, Respekt oder Arbeitsfähigkeit kippen – Beleidigungen, Mobbing, Gefährdung – stoppst du natürlich.

Aber fachlich während der Arbeitsphase? Halt. Die. Fresse.

Das fühlt sich an wie Kontrollverlust, ist aber das Gegenteil: Es ist die Entscheidung, Kontrolle sinnvoll einzusetzen. Wir sind in BTC nicht die Hauptfigur. Wir sind nicht die Show. Wir sind eher so was wie Regisseur:in, der:die nicht im Bild sein sollte.

Wenn du dich aus dem Zentrum nimmst, passiert was Verrücktes: Kinder fragen sich gegenseitig statt dich. Fehler werden diskutiert statt versteckt. Lösungen gehören der Gruppe, nicht dir. Aha-Momente entstehen bei ihnen, nicht bei deiner Tafelshow.

Und wenn du irgendwann in deiner Klasse stehst, um dich herum zehn Dreiergruppen, Stifte quietschen, Kids diskutieren ernsthaft über ihre Ideen – und du stehst einfach nur da und denkst: „Krass. Die machen das wirklich ohne mich.“ Dann weißt du: Genau deshalb hast du dir den ganzen Stolperkram angetan.

Fazit: Ja, du wirst stolpern. Nein, das ist kein Grund aufzuhören.

Building Thinking Classrooms ist kein „Trick“, den man einmal lernt und dann kann. Es ist eine Zumutung – für Kinder, für Kolleg:innen, für uns selbst.

Du wirst zu früh aufgeben wollen, Regeln verwässern, schlechte Aufgaben bauen, unvorbereitet in Stunden gehen, zu viel in eine Stunde packen, dem Lehrplan hinterherhecheln, Zufallsgruppen verfluchen, Unruhe hassen, zu früh retten, zu viel erklären. Und genau das ist der Weg.

BTC wird nicht gut, trotz dieser Fehler. Es wird gut, weil du durch sie durchgehst – und nicht jedes Mal zurück in die Komfortzone flüchtest.

Kein „Alles wird gut“. Aber: Es wird anders. Ehrlicher. Denk-intensiver. Echter. Und irgendwann merkst du: Du bist nicht mehr die Hauptfigur im Raum – und genau dann wird Schule spannend.

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