Warum Deutschland Deeper Learning und Building Thinking Classrooms zusammenbringen muss

In Deutschland wird über Schule gesprochen, als sei sie ein Infrastrukturprojekt. Geräte, Startchacen, Quereinsteiger. Über das, worum es eigentlich geht – wie Denken und Lernen nachhaltiger werden – reden wir kaum. Während in Kanada, Neuseeland oder den USA ganze Bildungsbewegungen darauf zielen, Schüler:innen zu befähigen, komplexe Probleme zu verstehen und selbstständig zu handeln, diskutiert Deutschland weiterhin über WLAN in Klassenräumen.

Zwei internationale Konzepte könnten hier den Kurs korrigieren: Deeper Learning und Building Thinking Classrooms (kurz: BTC, deutsch: Denkende Klassenzimmer). Beide verfolgen dasselbe Ziel – tiefes, selbstgesteuertes, vernetztes Denken – aber auf unterschiedlichen Ebenen. Und gerade deshalb passen sie so gut zusammen.

Deeper Learning: Bildung mit Tiefgang

Deeper Learning ist kein Modewort. Es ist ein Versuch, Bildung wieder auf Bedeutung zu gründen.

Der Begriff geht ursprünglich auf das National Research Council (2012) und Arbeiten von Linda Darling-HammondJal Mehta und Monica Martinez zurück. Im deutschsprachigen Raum wurde das Konzept maßgeblich durch Anne Sliwka geprägt. Es wird dabei gerne als Lernen mit Sinn, Tiefe und Selbstwirksamkeit beschrieben.

Das Konzept steht für einen Paradigmenwechsel: Weg von der Wissensreproduktion, hin zur Fähigkeit, Wissen zu vernetzen, zu reflektieren und in neuen Kontexten anzuwenden. Es ist das Gegenteil von Bulimie-Lernen – und zugleich eine Absage an rein technokratische Kompetenzmodelle.

Zentrale Dimensionen sind:

  1. Mastery: tiefes Verständnis statt oberflächlicher Beherrschung.
  2. Identity: Lernen als Teil der eigenen Entwicklung.
  3. Creativity: Wissen neu kombinieren.
  4. Reflection: Denken über das eigene Denken.
  5. Collaboration: Wissen gemeinsam konstruieren.
  6. Authentic Action: Anwendung in realen, bedeutsamen Kontexten.

Das alles ist hoch anschlussfähig an neurowissenschaftliche Befunde (Stichwort: „deep processing“) und an reformpädagogische Traditionen von Dewey bis Freire. Aber es bleibt oft eine pädagogische Philosophie, kein alltagstauglicher didaktischer Leitfaden für Lehrer:innen, die tagtäglich an der eigenen Belastungsgrenze kämpfen.

Deeper Learning liefert das Warum: Warum Bildung relevant sein muss. Warum Schüler:innen Akteure ihres Lernens werden sollen.
Warum Reflexion und Sinn nicht Luxus, sondern Notwendigkeit sind.

Was es nicht liefert, ist das konkrete Wie. Wie man Unterricht tagtäglich schnell und einfach strukturiert und aufbaut, damit Denken wirklich auch passiert.

Und genau da setzt Building Thinking Classrooms an.

Building Thinking Classrooms: Die Architektur des Denkens

Peter Liljedahl, Mathematikdidaktiker aus Kanada, stellte sich eine simple, aber radikale Frage: Wie können wir Unterricht so gestalten, dass Schüler:innen tatsächlich denken – und nicht nur Aufgaben lösen?

Seine Antwort entstand nicht am Schreibtisch, sondern im Klassenzimmer. Über 15 Jahre untersuchte Liljedahl hunderte Unterrichtsstunden, testete Variablen, verwarf Hypothesen, sprach mit Lehrkräften. Das Ergebnis: 14 Prinzipien, die aus Beobachtung, nicht aus Ideologie entstanden.

Die Kernelemente von BTC:

  1. Non-permanente Oberflächen: Denken sichtbar machen – mit Tafeln/Whiteboards statt Heften.
  2. Zufällige 3er Gruppen: Soziale Routinen brechen, Kooperation aktivieren.
  3. Vertikale Arbeitsflächen: Bewegung, Perspektivwechsel, Aktivierung.
  4. Komplexe, nicht strukturierte Aufgaben: Denken provozieren, nicht Reproduktion.
  5. Minimaler Input: Lehrkraft als Impulsgeber, nicht als Dauersprecher.
  6. Sichtbarkeit des Prozesses: Fehler, Irrwege und Aha-Momente sind Lernstoff.
  7. Kontinuierliches Feedback: Formativ, beobachtend, dialogisch.

BTC ist kein Methodenfeuerwerk. Es ist eine Denkkultur in Unterrichtsform. Liljedahl nennt das „thinking classrooms“ – Räume, in denen Denken nicht das Ziel, sondern die Praxis ist.

Empirisch gesehen ist BTC robust: Design-Based Research, über 400 Lehrkräfte, qualitative Tiefenbeobachtungen, repliziert in verschiedenen Ländern. Nicht im Sinne von standardisierter Wirksamkeitsforschung, sondern als ökologisch valide Unterrichtsforschung – sie funktioniert, weil sie in echten Klassenzimmern getestet wurde.

Kurz gesagt: BTC operationalisiert das, was Deeper Learning postuliert.

Zwei Bewegungen, ein Ziel

Beide Konzepte teilen eine gemeinsame DNA:
– Konstruktivistisches Lernen
– Kooperation als Standard
– Authentische Aufgaben
– Fehler als Lernchancen
– Lehrkräfte als Ermöglicher:innen

Aber sie unterscheiden sich im Zugriff:

EbeneDeeper LearningBuilding Thinking Classrooms
FokusSystemisch, schulorganisationalUnterrichtlich, mikrostrukturell
ZielSinn und Tiefe im LernenSichtbares, aktives Denken
HerangehenDeduktiv (vom Konzept zur Praxis)Induktiv (aus Praxis zur Theorie)
StärkeBildungsvision und SelbstwirksamkeitKonkrete Routinen für Denkprozesse
GrenzeGefahr der AbstraktionGefahr der Fragmentierung
ErgänzungBTC liefert das HandelnDeeper Learning liefert die Richtung

Deeper Learning sagt: Denken ist das Ziel.
BTC zeigt: So sieht Denken aus, wenn es passiert.

Und genau deshalb gehören sie zusammen.

Wenn gute Konzepte im Stundenplan ersticken

In Deutschland fehlt es nicht an Reformideen – es fehlt an Luft zum Atmen. Schulentwicklung läuft in Projekten, Modulen, Förderlinien. Hier ein digitales Lernbüro, dort ein Coaching-Programm, daneben ein Pilotversuch zu Future Skills. Alles mit guten Intentionen, alles theoretisch sinnvoll. Nur: Im Schulalltag greifen diese Fäden selten ineinander. Sie bleiben lose Enden in einem System, das permanent überfordert ist.

Lehrkräfte erleben diesen Widerspruch täglich. Sie sollen Lernbegleiter:innen, Diagnostiker:innen, Krisenmanager:innen und Digitalprofis sein – und gleichzeitig noch „Unterricht weiterentwickeln“. Aber wann? Zwischen Vertretungsplan und Elternabend? Zwischen Krankheitswelle und ZP-Vorgaben?

Die Forschung denkt zu selten aus dieser Perspektive. Sie entwirft Modelle, die in einem idealen System funktionieren würden – nur leben wir nicht in einem idealen System. Deeper Learning etwa ist theoretisch bestechend: Es zeigt, wie tiefes, vernetztes Lernen aussehen kann. Aber es verlangt Zeit, Kooperation und Transferleistung. Es braucht Teams, Reflexionsräume, Schulentwicklungskultur. Kurz: Voraussetzungen, die im Alltag eines Klassenlehrers mit der schwierigen 6c schlicht nicht gegeben sind.

Und genau hier kann Building Thinking Classrooms etwas, was Deeper Learning (noch) nicht kann: es funktioniert im laufenden Betrieb. Es ist als Konzept einfach zu erklären. Man muss nicht das Buch von Peter Liljedahl lesen, um nach seinem Konzept zu unterrichten. BTC schafft mit vergleichsweise weniger Arbeit Mikrostrukturen, die Denken ermöglichen. In einem System, in dem Lehrkräfte täglich aufgerieben werden, ist das keine Nebensache, sondern Überlebensstrategie.

Warum das Zusammendenken nötig ist

Deeper Learning braucht BTC, um in den Unterricht zu kommen.
BTC braucht Deeper Learning, um nicht als Methodenkit zu verflachen.

Wenn beide Strömungen sich gegenseitig ernst nehmen, könnt etwas entstehen, das der deutschen Bildungslandschaft bisher fehlt:
eine kohärente Theorie-Praxis-Brücke für nachhaltiges Denken.

Deeper Learning zeigt, wofür wir lehren. Building Thinking Classrooms zeigt, wie wir lehren können. Und beide zusammen zeigen, wie Bildung relevant wird.

Fazit

Der deutsche Bildungsdiskurs hat kein Erkenntnisproblem – er hat ein Umsetzungsproblem. Wir haben Ideen, aber keine Brücken zwischen ihnen.

Deeper Learning und Building Thinking Classrooms sind zwei Seiten derselben Bewegung: Die eine denkt Bildung vom Sinn her, die andere vom Handeln. Gemeinsam bilden sie das Fundament einer Pädagogik, die nicht Wissen, sondern Denken kultiviert.

Vielleicht ist genau das der Schritt, den wir brauchen: Nicht mehr zwischen Konzept und Praxis unterscheiden – sondern sie als Einheit begreifen.

Wenn wir unseren Unterricht wirklich hin zum Denken verändern wollen, dann müssen wir es so gestalten, dass Lehrkräfte es im Alltag auch umsetzen können. Alles andere bleibt Wunschpädagogik. Wir müssen die Perspektive derer einnehmen, die jeden Tag vor schwierigen Klassen stehen. Nicht von oben planen, sondern von unten verstehen. Uns fehlt dieser Blick: der Blick aus dem Klassenraum, nicht auf ihn. Erst wenn Reformideen aus dieser Perspektive gedacht werden, haben sie eine Chance, wirklich anzukommen – und Denken nicht nur zu fordern, sondern möglich zu machen.

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