Denkende Klassenzimmer im Hauptbahnhof und warum mein Unterricht darin verreckt

Mein Irrtum bei Building Thinking Classrooms (kurz: BTC, deutsch: Denkende Klassenzimmer): Ich dachte, ich hätte die Kontrolle. Turns out: der Raum ist wie ein zweiter Lehrer – und manchmal ein Saboteur, der mir die Stunde unterm Arsch wegzieht.

Der stille Hilfslehrer

In meiner 9. Klasse läuft Building Thinking Classrooms mittlerweile wie Netflix-Autoplay: eine Folge schließt an die nächste an. Raum entfrontet, Tische verschoben, Kids ritualisiert. Alles greift ineinander. Ich muss kaum noch was sagen, die Kinder wissen sofort, was zu tun ist. Diskussionen, Streit über Mathe, gegenseitiges Erklären – das volle Programm.

Warum? Weil der Raum nicht gegen mich arbeitet. Er ist mein Wingman.

Der Gegenspieler

Dann die 8er. Gleiche Idee, gleiches Konzept – aber im falschen Raum. Die Tische stehen so eng, als säßen die Kids auf Bierbänken im Bierzelt. Wenn sie aufstehen, kleben sie wie ein Klumpen Eierlei an der Wand. Platz zum Denken? Fehlanzeige.

In meinem eigenen Klassenraum habe ich elf Meter Tafel für 27 Kids. Die können sich verteilen, arbeiten. Im Differenzierungsraum: drei Meter halbwegs brauchbare Tafel und vier Meter Tafelschrott. Baujahr 1970, Schreiben mit Kreide ist wie Graffiti auf Asphalt – man kratzt, man schmiert, man gibt irgendwann auf.

Ergebnis: Kids lehnen sich zurück, sitzen wieder, es bleibt eng, laut, hektisch. Mehr Rangeleien, weniger Mathe. Der Raum kämpft gegen mich. Zwei Lehrkräfte im Raum – ich und die Raumstruktur – und wir streiten uns jede Stunde, wer Recht hat.

Mein privates Labor vs. öffentlicher Bahnhof

In meiner 9. Klasse habe ich Klassendienste, ein eigenes Schwammfach, frische Schwämme und viele strukturierende Kleinigkeiten. Die Kids haben verstanden: Wenn die Tafel nicht sauber ist, gibt’s Ärger. Sie fühlen sich verantwortlich, weil der Raum ihr Raum ist.

Im Differenzierungsraum dagegen: sechs bis sieben Lehrkräfte, über zehn Klassen. Jeder kommt, jeder geht. Niemand fühlt sich verantwortlich. Am Ende sieht der Raum aus wie Hauptbahnhof: abgenutzt, beschmiert, anonym.

Konsequenzen helfen nur bedingt

Natürlich bin ich konsequent: Stühle ran, Stühle hoch, Kreide einsammeln, Tafel wischen. Aber das verändert den Charakter des Raums nicht. Für meine Neuner ist ihr Raum Heimat. Für die Achter ist der Differenzierungsraum ein Durchgang. Und ehrlich gesagt: ich kann es ihnen nicht mal vorwerfen.

Politisch werden

Wenn ich Building Thinking Classrooms im Hauptbahnhofraum will, reicht „mehr Konsequenz“ nicht. Dann muss ich politisch werden.

  • Eine Wandreihe ist frei: da will ich eine neue Sechs-Meter-Tafel reinhauen.
  • Ausstattung reinholen, die den Raum wenigstens ein Stück agiler macht.
  • Kolleg:innen ins Boot holen – ohne gemeinsame Verantwortung bleibt der Raum Bahnhof.

Fazit

Räume sind stille Hilfslehrer.Wenn ein Raum anonym ist, verkommt er. Wenn er gepflegt ist, trägt er. Und solange unsere Differenzierungsräume wie Hauptbahnhöfe funktionieren – laut, überfüllt, abgenutzt – wird Building Thinking Classrooms immer nur Insel bleiben.

Und das ist der Punkt: BTC ist ein Konzept, kein Methoden-Gimmick. Man kann es mal mit einer oder zwei Klassen ausprobieren, klar. Aber sobald man es größer fahren will, braucht es Raumstrukturen, die es tragen. Man muss Absprachen schaffen, Kolleg:innen gewinnen, Verantwortung klären.

Ich habe den Luxus, dass ich die Mehrheit meiner Stunden mittlerweile in meinem Raum habe – dort funktioniert es. Aber in Schuljahren, in denen ich fünf Mathekurse parallel hatte, also 25 Stunden Mathe pro Woche, wäre das undenkbar gewesen. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil die Räume es nicht hergegeben hätten.

Vielleicht ist die Lösung: denkenden Klassenräumen einen offiziellen Status geben. Einen Differenzierungsraum so umbauen, dass er wirklich BTC-kompatibel ist, und ihn gemeinsam pflegen. Kollegen reinholen, Schulleitung überzeugen, politische Mittel nutzen. Und wenn das läuft, baut man weitere Räume nach.

Denn eins ist klar: Wenn der Raum gegen dich arbeitet, kannst du noch so viel Konzept haben – du verlierst.

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