Ich sitze im Baskenland und beobachte Menschen. Das klingt entweder nach einem Fetisch oder nach einem kulturkritischen Essay. Glück gehabt – ist Letzteres. Was ich sehe: Menschen – gepflegt, leise elegant, leicht, aber mit Rückgrat.
Ihre Kleidung? Schlicht, edel, unironisch. Stoffe, die atmen. Keine sichtbaren Marken. Nichts Lautes. Bewegungen, die nicht protestieren müssen. Keine Pose – aber Haltung.
Und während ich hier im Urlaub sitze, dämmert mir etwas, das wehtut: Wir – Schulen, Gesellschaft, Eltern – haben unsere Kinder und uns auf dieser Ebene verloren. Nicht nur stilistisch. Sondern körperlich. Innerlich. Äußerlich. Vielleicht ist es nur der Zeitgeist. Wäre schön.
Was man hier sieht, ist kein Zufall. Es ist ein kulturelles Geflecht:
1. Baskische Ästhetik + französischer Einfluss
Hier bedeutet Kleidung nicht „Ich hab was übergeworfen“, sondern: „Ich hab mich gemeint.“ Jogginghosen? Gibt’s – aber selten. Wir in Deutschland haben uns längst mit Sofaklamotte als tragfähigem Lebenskonzept abgefunden. Was hier Leinenhemd ist, ist bei uns Hoodie. Immer. Auch auf Abschlussfeiern. Auch bei 30 Grad. Mit Cap. Weil warum nicht.
2. Öffentlicher Raum = Bühne, nicht Rückzugsort
Hier lebt man draußen – Bars, Plätze, Bänke. Und man zeigt sich. Auch bei Regen. Auch wenn’s nicht warm ist. Wer gesehen wird, gibt sich Mühe. In Deutschland ist der Look oft: „Ich bin kurz draußen, aber bitte sprich mich nicht an.“
3. Bewegung
Hier wird gelaufen. Spaziert. Nicht, weil man muss. Sondern weil’s normal ist. Der Körper ist kein Störfaktor, sondern Teil des Lebens. Menschen sind schlanker, aufrechter. In Deutschland wird sich bewegt, wenn’s einen Bonus bei der Krankenkasse gibt.Mit Schrittzähler.
4. Konsumkultur & Kleidung
Hier wird Kleidung getragen, weil sie etwas sagt. In Deutschland: Kleidung als Schutzschicht. Farblich irgendwo zwischen Asphalt und Ausbleichung. Wer sich gut kleidet, wird gemustert wie ein Blender. Besser aussehen als der Durchschnitt? Verdacht auf Arroganz. Lieber verschmelzen als auffallen.
Und unsere Jugend?
Unsere Jugendlichen sehen aus, wie sie sich fühlen: Verloren im globalisierten Stilvakuum. Hoodie, Sneaker, Notfallnierenwärmer – dieselbe Uniform, überall. Austauschbar. Körpervergessen.
Bewegung? Fehlanzeige.
Körperkontrolle? Nope.
Körperbild? Katastrophe.
Sie kommen mit schiefer Haltung und Jogginghose zur Schule, klatschen alle ab, lassen sich in den Stuhl fallen wie eine Mülltonne in die Abholzone – und denken: Das ist Alltag.
Und ja – jede Generation schaut skeptisch auf die nächste. Aber Jogginghose ist nicht Stil. Jogginghose ist irgendwie auch eine Kapitulation mit Kordelzug.
Was fehlt?
Orte.
Anlässe.
Gespräch.
Hier im Baskenland stehen überall Bänke. Nicht nur an Aussichtspunkten. Überall. Und die Menschen sitzen drauf – jeden Alters – ohne die ganze Zeit aufs Smartphone zu glotzen. Sie reden. Klingt banal. Ist es aber nicht. Es ist Kultur. Und dann diese Abende: Kein Saufen. Keine Shisha. Keine Dosen vom Discounter. Junge Leute sitzen da – gut modern gekleidet, wach, präsent. Ohne Lachgasflaschen. Auf Treppen, auf Bänken, am Leben. Nicht als Ausnahme, sondern als Gewohnheit.
Vielleicht fehlt uns nicht nur Bewegung.
Vielleicht fehlt uns schlicht: Alltagskultur.
Nicht Hochkultur. Nicht Bildungsauftrag.
Sondern:
Orte, an denen man sich zeigen muss. Momente, in denen man sich wieder in den Blick hebt. Denn wer sich zeigt, überlegt sich, wie er aussieht. Und wer redet, überlegt sich, wer er ist.
Warum das baskische Bild mehr ist als Folklore
Das alles ist kein Postkartenidyll mit gut sitzenden Hosen. Hier gibt es vergleichsweise wenig Touris. Es ist ein anderes Selbstverständnis: Eines, das die Öffentlichkeit als Bühne begreift – nicht als Fluchtweg. Und das Kleidung nicht als Schutzhülle versteht, sondern als Haltung.
Die Eleganz ist kein Luxus. Sie ist kein Geldproblem. Sie ist Kultur. Ein Verständnis von Leben, das sagt: Ich bin Teil dieser Welt – und benehme mich auch so. Diese Kultur erzeugt Teilhabe durch Präsenz. Stil durch Selbstachtung. Würde – ohne Snobismus.
Und genau deshalb ist sie erstrebenswert. Nicht, weil alle plötzlich Loafers tragen sollen. Nicht, weil Jogginghosen kategorisch verbrannt gehören. Sondern, weil wir unseren Kindern beibringen müssen, dass Außenwirkung nicht Fake ist – sondern Teilhabe. Dass Kleidung nicht Status zeigen muss – aber Haltung.
Dass Mühe kein Schimpfwort ist. Dass öffentlicher Raum nicht egal ist. Und der eigene Körper auch nicht.
Und ich?
Ich weiß nicht, wie ich mich in Zukunft kleiden werde. Früher hab ich mal regelmäßig Sakko in der Schule getragen. Direkt nach dem Referendariat. Weil Mathe ein strenges Fach ist. Weil ich ernst genommen werden wollte. Hat funktioniert – aber es hat mich auch weggezogen von den Kids. Zu viel Distanz in einem Stück Stoff.
Heute trage ich Lakotz-Shirts und Pullover mit ironischen Bildern, die zwischen Waschmaschine und Schulflur ihre letzten Reste Würde eingebüßt haben. Wenn ich die Basken sehe, fühl ich mich wie ein Jutebeutel mit Aufdruck.
In Zukunft vielleicht weniger Hipster, mehr Snob. Was ich weiß: Es geht nicht ums Outfit. Es geht um den Code. Ich liebe meine Sneaker. Ich mag Notfallnierenwärmer inzwischen auch.
Aber darum geht’s nicht.
Es geht um Haltung. Und darum, was wir unseren Kids beibringen müssen. Denn Armut spielt bei all dem eine riesige Rolle. Meine Kids sind arm. Und Jogginghose kann das kaschieren. Ein teures Fake-Teil von irgendwo her dazu – und man sieht rich aus. Affektiert vielleicht. Aber genau das ist Teil des Spiels.
Ich verstehe das. Ich verurteile es nicht.
Aber genau hier liegt der Schlüssel: Wir brauchen mehr kulturelle Bildung, die Teilhabe ermöglicht. Nicht nur Bewerbungstrainings. Nicht nur Lebensläufe. Sondern Codes.
Warum wirkt etwas arm? Warum hilft Stil beim sozialen Aufstieg? Was bedeutet Distinktion – und wie funktioniert sie?
In NRW ist Berufsorientierung an Hauptschulen ein ganz großes Ding. An meiner Schule ist es sogar ab Klasse 9 ein zweistündiges Fach. Ich unterrichte es im nächstem Schuljahr mal wieder. Es gibt einen offenen Lehrplan. Vielleicht ist das die Lücke, die man nutzen kann.
Kein Stylingkurs. Kein Laufstegtraining. Sondern: Eine Unterrichtseinheit über kulturelle Codes. Über soziale Zugehörigkeit. Über Selbstachtung. Was sagt mein Auftritt über mich? Wie wirkt Kleidung in bestimmten Kontexten? Warum werden bestimmte Codes belohnt – und andere stigmatisiert? Das ist kein Schönheitsideal. Das ist kein Konformitätszwang. Das ist: Teilhabe durch Verstehen.
Und das ist vielleicht nicht viel. Aber etwas.
Denn wer keine Bühne hat, spielt irgendwann nicht mehr mit. Und wer sich nicht mehr zeigt, wird auch nicht mehr gesehen.

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